Syrien nach dem Umbruch: Hoffnung und Ungewissheit
Jean-Charles Putzelou und Mario Galgano - Vatikanstadt
Nach über einem Jahrzehnt Krieg steht Syrien an einem historischen Wendepunkt: Der Sturz des Assad-Regimes und die Flucht des ehemaligen Präsidenten Baschar al-Assad haben das Land in eine Phase des Umbruchs versetzt. Während die neuen Machthaber unter Abu Mohammad al-Jolani, einst Führer der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham, von einem „pluralistischen Syrien“ sprechen, bleibt die Lage für die Bevölkerung geprägt von Unsicherheit und Leid über die Narben des Krieges, gemischt mit neuer Hoffnung.
Pater Vincent de Beaucoudrey, Direktor des Jesuitenflüchtlingsdienstes (JRS) in Damaskus, beschreibt in einem Interview mit Radio Vatikan die Herausforderungen, denen Syrien sich gegenübersieht. Nach Jahren in Homs kehrte er vor wenigen Monaten in die Hauptstadt zurück und erlebte dort die ersten Tage eines „neu entstehenden Syriens“.
„Die politische Landschaft hat sich grundlegend verändert, doch die Sorgen der Menschen bleiben: Die Wirtschaft liegt am Boden, viele Syrer sind geflüchtet, und die Ungewissheit über die Zukunft ist allgegenwärtig“, so der Jesuitenpater. Die neuen Machthaber hätten zwar die Bereitschaft zu einem friedlichen Miteinander aller Gemeinschaften signalisiert, doch die Stabilität des Landes sei noch lange nicht gesichert.
Die Rolle der Christen: Salz der Erde
Besonders die christliche Gemeinschaft habe im Bürgerkrieg schwer gelitten. Viele Gläubige seien Opfer der Gewalt geworden, andere mussten ihre Heimat verlassen. Doch ihre Rolle bleibe laut Pater Vincent unverzichtbar: „Das Opfer der Christen war nicht vergeblich. Es ist ein Ausdruck von Hingabe und ein Zeichen dafür, dass sie weiterhin als ‚Salz der Erde‘ hier präsent sind.“
In Aleppo seien bereits erste Zeichen der Hoffnung sichtbar: Weihnachtsdekorationen schmücken Kirchen und Straßen. Dennoch bleibt die Frage nach der langfristigen Sicherheit offen. „Über kurze Zeiträume können wir Weihnachten in Frieden feiern“, erklärt Pater Vincent. „Doch die Angst vor einer ungewissen Zukunft bleibt. Es geht nicht nur um Symbole, sondern um die langfristige Richtung, die das Land einschlagen wird.“
Die Herausforderung des Wiederaufbaus
Der Wiederaufbau Syriens erfordere weit mehr als humanitäre Hilfe, gibt Pater Vincent zu bedenken. Er betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit internationaler Unterstützung: „Die Aufhebung der Sanktionen und Investitionen in die syrische Wirtschaft sind entscheidend, um eine nachhaltige Perspektive zu schaffen. Es ist traurig zu sehen, dass einige Länder Mauern errichten, bevor sie ihre Botschaften wieder eröffnen.“
Gleichzeitig begegne er der schwierigen Lage mit einem festen Glauben an die Hoffnung: „Als Christen setzen wir auf die Wette der Hoffnung, auch wenn die Zukunft noch ungewiss ist. Es geht darum, die Angst der Menschen zu teilen und daran zu arbeiten, ein pluralistisches Syrien zu ermöglichen.“
Zwischen Angst und Hoffnung
Pater Vincent berichtet auch von der Rückkehr erster Flüchtlinge, insbesondere aus dem Libanon und der Türkei. Doch die große Mehrheit der Geflüchteten zögere noch. „Es ist noch zu früh, von einem umfassenden Wiederaufbau zu sprechen“, erklärt er. Trotz kleiner Fortschritte sei Syrien weit von einem stabilen Zustand entfernt.
Dennoch ermutigt der Jesuitenpater dazu, die Chancen der neuen politischen Realität ernst zu nehmen. „Wir müssen darauf vertrauen, dass ein gemeinsames Syrien möglich ist, trotz aller Widersprüche. Lasst es uns versuchen.“
(vatican news)
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